EdiMotion 11. – 14.10.2024

Ehrenpreis

Die Hommage und der Ehrenpreis Schnitt sind für unser Festival von Beginn an ein besonders wichtiges Anliegen. Die Kunst der Filmmontage findet meist im Verborgenen statt, und auch ihre Künstler neigen eher nicht dazu, das Rampenlicht zu suchen. Wie sehr herausragende Editorinnen oder Editoren ihre Filme mit geprägt haben, ist oft nur ihren Produzenten und Regisseuren bekannt. Dies zu ändern, haben wir uns Aufgabe gemacht. Die Hommage richtet daher jedes Jahr ihre Scheinwerfer auf eine Editoren-Persönlichkeit, deren Wirken, Filmografie und Einsatz für den Beruf es verdient hat, in einem feierlichen und öffentlichen Rahmen gewürdigt zu werden. Die Liste der bisherigen Preisträger des Ehrenpreises umfasst Editorinnen und Editoren mit durchaus unterschiedlichen Herkünften, Schwerpunkten und Lebenswegen. Eines vereint aber alle: Die Leidenschaft und den besonderen Einsatz für ihre oft unterschätzte – und zu selten thematisierte – eigenschöpferische Leistung im Dienste des Films.

Preisträgerin 2024

Gabriele Voss - unsere Ehrenpreisträgerin 2024

Eine Forscherin am Prozess der filmischen Wahrnehmung

2024 geht der Ehrenpreis Schnitt an die Editorin und Autorin Gabriele Voss. Die promovierte Wahrnehmungstheoretikerin ist eine der prägendsten Chronistinnen Deutschlands und des Ruhrgebiets. Vornehmlich in Zusammenarbeit mit Filmemacher Christoph Hübner hat sie die Lebenswirklichkeiten des Bergbaus, der Kunst, der Sportwelt und zahlreicher weiterer gesellschaftlicher Bereiche filmisch erfahrbar gemacht.

Zu ihren Montagearbeiten zählen zahlreiche Portraits und dokumentarische Betrachtungen. Etwa DIE LEBENS-GESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALPHONS S, der mit dem Grimme-Preis 1980 ausgezeichnet wurde oder auch VINCENT VAN GOGH von 1989, in dem Voss sich dem Maler über geschickt verwobene private Briefkorrespondenz nähert. In ANNA ZEIT LAND von 1994, erforschen zwei junge Frauen mit der Sammlung von Tönen und Bildern Deutschland in der Wendezeit. Die Montage erschafft daraus einen Film wie eine Reise durch die unterschiedlichen Ebenen der menschlichen Assoziation.

Splitterhafte und rhizomartige Erzählstrukturen, die Gabriele Voss in ihrer Arbeit als Editorin auszeichnen, entwickelte sie stetig weiter. Sie zeigt sich in Filmen wie THOMAS HARLAN – WANDERSPLITTER, in der Trilogie DIE CHAMPIONS, HALBZEIT, NACHSPIEL oder auch NACHLASS aus dem Jahr 2017, der die gesellschaftlichen Folgen des Nationalsozialismus untersucht. Das Ruhrgebiet, der Bergbau und der Strukturwandel sind wiederkehrende Themen in den Filmen von Gabriele Voss. So entstanden in den Jahren 2006 – 2015 die EMSCHER SKIZZEN, eine Reihe von dokumentarischen Miniaturen, die sich auch zu einem epischen Gesamtwerk verbinden lassen.

Auch ihre aktuellste Arbeit, VOM ENDE EINES ZEITALTERS aus dem Jahr 2023, sammelt die Erfahrungen von Jahrzehnten des Strukturwandels in Splittern und collagenhafter filmischer Beobachtungen. VOM ENDE EINES ZEITALTERS wird im Rahmen der Hommage-Werkschau am Montag, den 14.10.2024 im Filmhaus-Kino Köln präsentiert mit anschließendem Filmgespräch.

Mit dem Eröffnungsfilm ANNA ZEIT LAND von 1994 am Abend des 11.10.2024 beginnt die Reise in die filmischen Wahrnehmungswelten, die Gabriele Voss in ihrer Arbeit als Editorin auszeichnet. Laudator des Eröffnungsabends ist der Autor Marcus Seibert.

Gabriele Voss ist neben ihrer Tätigkeit als Editorin und Filmemacherin auch Herausgeberin zahlreicher Buchveröffentlichungen zur Montage. Unter dem Titel SCHNITTE IN RAUM UND ZEIT erschien 2006 sowohl ein Interviewband als auch eine filmische Reihe. Die Auseinandersetzung mit dem Beruf der Editorin über die Jahre wird auch Teil des Themenschwerpunkts des diesjährigen Festivals sein.

Gabriele Voss ist außerdem Mitgründerin des Ruhrfilmzentrums und des Filmbüro NW. e.V., sowie Beiratsmitglied der dokumentarfilminitiative.

Termine

Freitag, 11.10.2024 um 20 Uhr | Filmforum NRW im Museum Ludwig
Eröffnung
„Anna Zeit Land“ (DE 1994, 101 Min., R: Christoph Hübner) in Anwesenheit der Ehrenpreisträgerin mit anschließendem Filmgespräch
Laudatio: Marcus Seibert

Montag, 14.10.2023 um 10:30 Uhr | Filmhaus Köln
„Vom Ende eines Zeitalters" (D 2024, Min., R: Christoph Hübner/Gabriele Voss) in Anwesenheit der Ehrenpreisträgerin mit anschließendem Filmgespräch

Montag, 14.10.2024 um 20:00 Uhr | Filmforum NRW im Museum Ludwig
Preisverleihung Ehrenpreis Schnitt
Laudatio: Anne Fabini

Filmografie (Auswahl)

2023 Vom Ende eines Zeitalters
2019 Nachspiel
2017 Nachlass
2013 Transmitting
2012 Mandala
2006-2015 Emscher Skizzen
2010 HalbZeit - Vom Traum zum Leben
2006 Thomas Harlan / Wandersplitter
2006 Schnitte in Raum und Zeit
2003 Die Champions
1994 Anna Zeit Land
1989 Vincent van Gogh – Der Weg nach Courrieres
1980 Frauen-Leben
1979 Lebens-Geschichte des Bergarbeiters Alphons S.

Interview

MENSCHEN BEI SICH LASSEN – Gabriele Voss im Gespräch mit Sven Ilgner

In deiner Buchveröffentlichung „Schnitte in Raum und Zeit“ stellst du Editorinnen wie Beate Mainka-Jellinghaus, Wolfgang Widerhofer oder Bettina Böhler eine Frage, die ich dir zu Beginn auch stellen möchte: „Was ist Montage?“

Schwierig. Eine Definition hört sich immer gut an, aber eigentlich kann ich das nur als Prozess beschreiben. Zum Verständnis möchte ich vorab sagen, dass ich Dokumentarfilme schneide. Manche denken vielleicht: man hat einen Plan, beim Spielfilm ein Drehbuch, beim Dokumentarfilm ein Konzept, und danach schneidet man dann. Für mich ist das nicht so. Ich gehe nicht mit einem Plan in den Schneideraum. Anfangs habe ich nur eine ungefähre Vorstellung vom Film. Letztendlich findet sich die Form aber im Tun, im Prozess des Hintereinanderstellens, des Umstellens, des Entscheidens über Zeit und Rhythmus etc. Selbst, wenn ich beim Drehen dabei bin und die Absichten kenne, die es bei der Aufnahme gibt, mache ich mich mit Beginn des Montageprozesses davon frei und sehe nur noch das, was auf dem Bildschirm im Schnittraum zu sehen ist. Was nicht leicht ist, aber man kann es lernen und auch üben.

Du bist ja häufiger als die meisten Editorinnen Teil des Drehs, arbeitest als Co-Regisseurin mit Christoph Hübner an den Projekten. Wie sieht dieser Lernprozess aus?

Für mich ist das Interessante an diesem Prozess, das Mitgebrachte, die Absichten, zur Seite zu tun und nur noch das Material zu sehen: „Was ist da auf dem Bildschirm?“ Das genaue Hinschauen ist ein Grundpfeiler der Montage. Nicht in die Bilder hinzusehen, was wir meinen oder beabsichtigen, sondern wirklich zu sehen, was da ist. Es ist, als ob ich einen Gegenstand von allen Seiten betrachte, ihn immer wieder wende und immer noch Neues entdecke. Später, bei ersten Vorführungen, kommt dann zum Vorschein, was andere sehen, und ob das, was wir sichtbar und erfahrbar machen wollen, auch wirklich sichtbar wird.

Das klingt nach einem Prozess, der nie abgeschlossen ist. Aber ein Film muss im Normalfall zu einer bestimmten Zeit abgeschlossen sein. Kannst du den Moment skizzieren, in dem der Film seine Form gefunden hat?

Film ist ein zeitbasiertes Medium. Alles spielt sich auf der Zeitachse ab. Ich habe im Material nicht ein einzelnes Element, sondern auf der Zeitachse viele Elemente. Die bringe ich nicht nur in eine Abfolge, sondern in eine Balance. Wir ringen lange darum, die richtige Gewichtung oder Balance der einzelnen Elemente zu finden. Und das Gefühl, dass wir den Film herausgeben können, stellt sich ein, wenn die Balance gefunden ist. Wie bei einem Gebäude, bei dem man das Gerüst wegnimmt und es hält in sich. Wenn man ein tragendes Element wieder herausnimmt, bricht das Ganze zusammen.

Deine Arbeit als Editorin zeichnet sich besonders durch episches Erzählen aus, beispielsweise in den Emscherskizzen oder auch bei Thomas Harlan - Wandersplitter. Hier steht das „Gebäude“ als Ganzes. Das Publikum wird aber auch ermutigt, nur einzelne Elemente anzuschauen. Stört es dich, wenn man das Gesamtkonstrukt nicht ganz wahrnimmt?

Es ist einfach eine andere Wahrnehmung. Wenn ich zum Beispiel in die Literatur blicke und die Dubliner von James Joyce als Ganzes lese, ist das etwas anderes, als wenn ich nur einzelne Geschichten davon lese. Es entsteht ein anderes Bild. Bei Wandersplitter ist es ein Angebot, dass man sie einzeln nimmt und für sich auf andere Weise zusammensetzt. Im Wort „Splitter“ ist das schon ausgedrückt. Die einzelnen Stücke sind aber noch keine Erzählung. Die entsteht erst durch unsere Anordnung auf der Zeitachse des Films. Es stört mich nicht, wenn man einzelne Stücke schaut, solange das nicht bedeutet, dass unsere Erzählung gar nicht mehr wahrgenommen wird. Wobei wichtig ist, dass unsere Erzählungen nicht so eng kausal verknüpft sind wie das vielleicht in einem dreiaktigen Spielfilm der Fall ist.

Ist es wichtig für dich, dass du erst mit dem analogen Schnitt begonnen hast? Hast Du etwas mitgenommen aus der analogen Zeit?

Mir ist wichtig, dass ich mit dem Material spielen kann, nicht alles aufreihen muss wie Perlen auf einer Schnur. So war das beim analogen Videoschnitt. Wenn schon 100 Perlen hintereinander gehängt waren, man aber die zwölfte Perle wieder rausnehmen wollte, musste man alle Perlen, die danach kamen, wieder abnehmen. Diese Art des Denkens in linearen Abfolgen liegt mir nicht. Der analoge Filmschnitt war dagegen viel näher am heutigen digitalen Schnitt. Man konnte das Material zerlegen in kleine oder größere Rollen mit einzelnen Einstellungen oder auch ganzen Szenen. Schwarze für das Bild und braune für den Ton. Damit konnte man spielen, ausprobieren, Abfolgen schnell umstellen. Das geht im Digitalen jetzt noch schneller, auch was den Ton betrifft. An einem Sechstellertisch gab es nur eine Bildspur und zwei Tonspuren. Man konnte die Arbeitskopie z.B. mit zwei Originaltonspuren vorführen oder aber nur mit einer plus z.B. Sprache oder aber Musik. Das heißt, du musstest dir bei Rohschnittsichtungen immer noch Vieles vorstellen. Durch den analogen Filmschnitt habe ich das gelernt. Ich kann mir Vieles vorstellen, ohne dass ich es immer schon sehen oder hören muss.

Wie erlebst du das mit Nachwuchseditor:innen zum Beispiel?

Das Bewusstsein, dass es bei der Montage ganz stark um die Gestaltung von Zeitabläufen geht und nicht nur darum, ein gutes Bild oder 100 gute Bilder irgendwie hintereinander zu bringen, das muss sich bei Studierenden oft erst noch entwickeln. Manche denken, Montage ist Umgang mit Bildern, aber ich finde, es ist vor allem ein Umgang mit Zeit, mit Rhythmus, mit Dauer, mit Dynamik etc. Das sind Aspekte, die eher der Musik nahe sind.

Nutzt du KI, z.B. für Transkriptionen? Hast du eher Freude oder Sorge ob der neuen technischen Möglichkeiten?

Auf den ersten Blick denkt man, Gespräche oder Interviews mit KI zu transkribieren, ist eine Erleichterung. Früher machte das ein Schreibbüro. Meistens habe ich mich aber entschieden, es selber zu machen. Wenn ich es selber mache, bekomme ich außer den Worten den Tonfall mit, den Rhythmus des Sprechens. Ich kriege mit, wie die Blicke sind, wo Pausen gemacht werden. All das steht bei mir auch in den Protokollen. Eine Transkription vermerkt diese Dinge nicht. Wenn ich nur eine wörtliche Transkription hatte, etwas darin suchte und dachte, inhaltlich würde eine bestimmte Stelle passen, musste ich oft feststellen, dass die Stelle vom Blick her nicht passt, oder vom Tonfall, oder vom Rhythmus des Sprechens. Transkriptionen können helfen, wenn man richtig lange Interviews hat. Aber sie nehmen mir nur einen kleinen Teil der Arbeit ab. Und was die Erzeugung von Bildern durch KI betrifft – wenn man unsere Filme sieht, wird man feststellen, dass es z.B. keine Animationen oder Nachinszenierungen gibt. Warum nicht? Das Abwesende soll als abwesend kenntlich bleiben. Wir wollen die Lücke, die es lässt, nicht durch künstlich erzeugte Bilder auffüllen.

Als Zuschauer bin ich fasziniert, wie schnell und direkt ich eurer Erzählung vertrauen kann. Wie stellt ihr das Vertrauen her? Und worauf achtest du bezogen auf Wahrhaftigkeit?

Mir fällt dazu Godard ein, der mal gesagt hat: „Es gibt nichts hinter der Oberfläche“. Im Deutschunterricht lernen wir die ganze Zeit: Es gibt ganz viel hinter der Oberfläche. So sind wir auch sozialisiert. Im Film gibt es aber nichts hinter der Oberfläche – zunächst jedenfalls. Daher ist mein erzählerisches Anliegen, dass ich die Zuschauer und Zuschauerinnen auch nicht verleite, hinter dem, was sie im Moment sehen und hören, immer noch etwas anderes zu suchen. Wenn das Publikum das Gefühl hat, es kann dem vertrauen, was im Moment gegeben wird, und später kann es das auf seine Weise verstehen, dann haben wir viel erreicht. Ob das als Wahrhaftigkeit empfunden wird, weiß ich nicht.

Das ist eine gute Beschreibung meiner Erfahrungen, wenn ich mir eure Filme ansehe.

Bei unserem Film „Nachlass“ wollten wir dem Publikum z.B. die Möglichkeit geben, die Protagonisten im Laufe des Films kennenzulernen. Und nicht gleich zu Anfang durch Bauchbinden erklären, wer das ist. Das hätte zu viel vorweggenommen und die Neugier auf die Personen beeinträchtigt. Bei „Anna Zeit Land“ wollten wir die Menschen auf eine Reise ins Offene mitnehmen, statt ihnen mit dem Film ein Ergebnis zu präsentieren, das sagt: ‚So ist Deutschland 1990 bis 1993‘. Montage ist für mich immer auch eine Bewegung ins Offene, nicht nur bei diesen Filmen.

Wenn ihr so arbeitet, ist ja viel Raum da für Interpretationen, Assoziationen. Erinnerst du dich an Reaktionen auf eure Filme, die dich sehr überrascht haben?

Es überrascht mich oft, wie sehr Menschen durch unsere Filme berührt werden. Bei „Vom Ende eines Zeitalters“ finde ich das z.B. erstaunlich, weil ich den Film eher als zurückhaltend erzählt empfinde. Wir zeigen im Film z.B. die Stilllegung der Kantine, in die die Bergleute über Jahrzehnte gingen, ohne dass wir den Abschied durch spezielle Nahaufnahmen oder Musik unterstreichen. Aus dem Publikum kam später mehrfach: „Die Szene hat mich zu Tränen gerührt!“ Dass das möglich ist, ohne dick aufzutragen und Emotionen zu suggerieren, ist für uns etwas sehr Grundsätzliches.

Ich komme den Menschen in euren Filmen so nah wie in nicht vielen anderen. Das erstaunt mich. In der Montage hast du Macht über die Personen und damit auch eine Verantwortung. Kannst Du beschreiben, wie Du damit umgehst?

Ich frage mich im Laufe der Montage immer wieder: Wie sind die Menschen bei sich? Die Menschen müssen natürlich schon in der Aufnahme bei sich sein, aber in der Montage kann man sie ja auch auf Rollen, Funktionen etc. zurechtstutzen. Das eben nicht zu tun, darum geht es. Da geht es oft um kleine Gesten, wie sie sich innerlich darauf einstellen, dass jetzt etwas gesagt wird. Oder, wenn sie Pausen machen, zu bemerken, ob sie vielleicht noch etwas ergänzen wollen. Diese Momente schneide ich nicht weg. Ähnlich wie im Buch hätte ich im Film „Schnitte in Raum und Zeit“ die Aussagen der verschiedenen Editor:innen z.B. nach thematischen Gesichtspunkten wie Materialaneignung, Rohschnitt, Final Cut etc. montieren können. Damit hätte ich die Editor:innen aber auf Themen reduziert und die Möglichkeit genommen, beim Zuschauen ein Gespür für die Eigenart der einzelnen Personen zu entwickeln. Bei „Nachlass“ gibt es z.B. anfangs längere Blicke in die Kamera, bevor jemand spricht. Wenn ich jemandem begegne, ist das Wort ja nicht das erste, sondern der Blick. Über den Blick vermittelt sich vielleicht das Gefühl einer langsamen Annäherung, eines Kennenlernens. Man weiß nicht gleich Bescheid.

Du berichtest in deinen Büchern, wie viel Ihr recherchiert und sammelt. Wann weißt du, dass es für die Erzählung reicht?

Das war bei unseren Projekten recht unterschiedlich. Unseren Film über Vincent Van Gogh beschreiben wir z.B. gerne als Spielfilm ohne Schauspieler. Der Film war sehr genau vorbereitet, sowohl von der Auswahl der Briefe als auch von der Auswahl der Motive her. Dem lag eine lange Recherche zugrunde. Christoph ist zum Beispiel zur Motivsuche drei Wochen zu Fuß durch die Borinage gewandert. Diese Wanderung hat zu Motiven geführt, die man im Vorbeifahren oder auch durch Erfragen kaum gefunden hätte.

Bei unserem Film „Die Champions“ über junge Fußballer, die Profis werden wollen, fingen wir parallel zum Drehen schon mit der Montage an. Und beim Anschauen des Materials fragte ich mich immer wieder: Welche Szenen haben wir, welche brauchen wir vielleicht noch, in denen die jungen Spieler als Charaktere kenntlich werden, abgesehen davon, dass sie den Ball gut kicken können? Ich schaute immer wieder ins Material und entdeckte bei wiederholtem Anschauen Aspekte, die ich durch die Montage erst freilegen musste. Es gibt im Film z.B. einen jungen Spieler aus Ghana, der einen Brief voller Heimweh nach Hause schreibt. Zugleich ist er ein Spieler, mit dem man lachen kann, er versinkt nicht im Heimweh. Im Fußball ist er oft verspielt, man spürt die andere Kultur, aus der er kommt. Dann schaue ich zig Szenen durch und suche die, in denen diese Facetten seiner Person, der Humor, das Heimweh, das Spielerische, aber auch das Talent besonders hervortreten. Und die montiere ich so, dass die Figur Fußballer nach und nach zu einer vielschichtigen Person wird.

Das Arbeiten mit solcher Genauigkeit trifft auf Erwartungen von Geldgebern, Förderinstitutionen und Fernsehsendern. Kannst du beschreiben, wie du die Entwicklung der Produktionsbedingungen der letzten Jahre siehst?

Beim Van-Gogh-Film hatte der Sender z.B. die Frage, wo der Film hinpasst. Ist das ein Film über Malerei oder gehört er wegen der Briefe eher in die Literatur, oder zur Religion, weil van Gogh in der Borinage Laienprediger war? Bei „Die Champions“ war es z.B. schwierig, vorherzusagen, wer von den 22 Jugendspielern Profi wird, was der Sender gerne wissen wollte. Der Film entstand dann ohne Senderbeteiligung, wurde aber später angekauft. Die Erfahrungen sind also unterschiedlich. Die Entwicklung heute empfinde ich so, dass vorab immer mehr und immer konkreter geschrieben werden muss. Es kann so weit gehen, dass man vorher aufschreiben soll, was einzelne Personen später sagen. Das finde ich bei einem Dokumentarfilm absurd.

Wie läuft die Zusammenarbeit zwischen Christoph Hübner und dir? Bleibt ihr im Schnitt eher in euren Rollen, du Editorin und er Regie? Seid ihr immer einer Meinung?

Ich muss vorausschicken, dass Christoph ein sehr gutes szenisches Gefühl hat. Er weiß im Drehen genau, auch ohne dass es aufgeschrieben ist, was man braucht, um etwas szenisch zu erzählen. Das ist eine sehr gute Basis für die Arbeit im Schneideraum. Unsere Debatten drehen sich dann eher um den Aufbau der Erzählung, die Abfolge von Szenen, um Weglassen, um Rhythmus und Pausen etc. Ich mache allein einen ersten Rohentwurf, Christoph kommt dann dazu und wir schauen zusammen, tauschen unsere Eindrücke aus. Natürlich sind wir dabei nicht immer einer Meinung. Meist entsteht daraus eine lange Liste von Vorschlägen, die auszuprobieren sind. Das mache ich dann wieder allein. Christoph kommt wieder zur nächsten Sichtung dazu usf. Er sucht während des Schnitts eine bestimmte Form von Distanz, die fruchtbar ist.

Du hast keine Filmhochschule besucht, sondern über Wahrnehmungstheorie und Ästhetik promoviert? Wie erinnerst du den Beginn deiner Montagetätigkeit?

Ursprünglich wollte ich Tonmeisterin werden, wollte mich in der Musikwelt bewegen. Meine Familie war sehr musikaffin. Christoph und ich haben uns durch die Musik kennengelernt, und wir machten in Heidelberg neben dem Studium Theater. Später ging Christoph an die Münchner Filmhochschule und wir arbeiteten auch bald gemeinsam an den ersten Filmen. Mein Einstieg in den Filmschnitt war dann eines seiner frühen Projekte. Christoph und ich fuhren 1971 zusammen nach Prag und er nahm dort 50 Rollen Super 8 Material auf, Straßenszenen, Alltagsbeobachtungen, dies und das. Zurückgekehrt bauten wir uns einen Galgen, auf dem wir die einzelnen Einstellungen mit Stecknadeln aufhängten, von denen wir vorher die Köpfe abgeknipst hatten. Dann kämpfte ich mich durch ein eher chaotisches Material, das in völliger Offenheit gedreht war. Aber es entstand ein Film, der immerhin auf den Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen präsentiert wurde. Das war mein Einstieg. Von da an beschäftigten mich die Fragen nach der Montage von Bildern und Tönen, und wie man mit ihnen erzählen kann, schreibend, montierend, lehrend. Und das blieb bis heute so.

Interview: Sven Ilgner

Laudationes

Laudatio für Gabriele Voss

Gehalten von Marcus Seibert am 11. Oktober 2024, Köln

Ich freue mich sehr, Gabriele Voss in einer ersten Laudatio heute als Ehrenpreisträgerin Schnitt des Edimotion Festivals 2024 vorstellen zu dürfen.

Ich tue das hier als fachfremder Drehbuchautor und Gelegenheitsdokumentarfilmer. Vermutlich komme ich zu der Ehre, weil ich vor zwei Jahren das naive Vorhaben hatte, in wenigen überschaubaren Interviews das ganze Filmwerk von Christoph Hübner und Gabriele Voss zu erkunden. Bislang haben wir uns dazu fünf Mal getroffen, uns jedesmal in weitläufige theoretische Debatten verstrickt. Es fehlt noch etwa die Hälfte der Filme.

Aber gut: Ich habe nur vier Minuten Zeit. Deshalb hier nur eine kurze Vorstellung der Preisträgerin, die die meisten hier kennen dürften: Gabriele Voss, geboren in Hagen studiert Germanistik und Soziolgie mit Promotion über Wahrnehmungstheorie 1976. 1968 ist sie das erste Mal offiziell laut Abspann unter Schnitt geführt. 1971, noch an der Filmhochschule München, arbeitet sie erstmals mit Christoph Hübner zusammen. Ein überaus fruchtbares und flexibles Kollektiv, das bis heute fortbesteht und beiden in den über fünfzig Filmen, die sie bislang gemeinsam und symbiotisch gedreht haben, erlaubt hat, sich immer wieder neu auszuprobieren – zählt man die achtzig Emscher-Skizzen einzeln, sind es übrigens deutlich über hundert Filme.

Fast immer hat Gabriele bei den gemeinsamen Filmen Konzept oder Drehbuch geschrieben oder mitgeschrieben, fast immer den Ton aufgenommen und eigentlich immer Ton und Bild editiert. Sehr oft ist sie als Koregisseurin genannt, was bei der Einbindung in Drehbuch und Schnitt beim Dokumentarfilm ja kaum anders zu denken ist. Manchmal hat sie auch allein Regie geführt, so bei Schnitte in Raum und Zeit 2006, einem Interviewfilm mit Editor*innen.

Gabriele hat es schnell von München ins Ruhrgebiet zurückgezogen. Die Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alphons S., eine Ruhrgebiets-Oral History der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts von 1978 wird mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Kurz danach erfolgt der Umzug, die Gründung des RuhrFilmZentrums [unter anderem mit Werner Ruszizka zusammen, mit dem Ziel, das eigenwillige Biotop Ruhrgebiet nachhaltig zum Gegenstand des Dokumentarfilms zu machen]. Es entsteht der Zyklus Prosper/Ebel über die Zechensiedlung Bottrop-Ebel, zum Ärger der Bewohner noch in schwarz/weiß. Die beiden wohnen drei Jahre vor Ort. Über Jahrzehnte kommen weitere Teile der Chronik (jetzt bunt) hinzu, der letzte Das Ende eines Zeitalters erst letztes Jahr. Er erzählt von der Schließung der letzten Zeche im Ruhrgebiet.

Gabriele gehört wie Christoph 1980 zu den Gründerfiguren des in Mülheim an der Ruhr entstandenen Filmbüro NW, zu den Paten der Dokumentarfilminitiative, wo die beiden, wie ich auch, im Beirat sitzen. Die Idee zu einer Buchreihe der Dokumentarfilminitiative ist, sagen sie, an ihrem Küchentisch entstanden. In der Reihe sind inzwischen vier Bände Reflexionen über die gemeinsame Arbeit erschienen, drei davon von Gabriele Voss herausgegeben. Band 10 heißt, wie ihr Dokumentarfilm von 2006 „Schnitte in Raum und Zeit“ und kreist um ihre Interviews mit zahlreichen Editor*innen, unterfüttert mit eigenen Reflexionen. [Mindestens zwei weitere Bücher hat sie noch geschrieben oder herausgegeben.]

Soweit die Fakten. Die vier Minuten sind sicher schon um. Ich rede einfach weiter.

Was mir an der Arbeit von Gabriele Voss schnell als Eigenheit aufgefallen ist, ist etwas, das ich die „Kunst nicht wegzuschneiden“ nennen würde. Alphons S. und später Thomas Harlan dürfen erzählen, oft ungeschnitten über längere Filmzeit. Noch im letzten Film wird die Fahrt in die Tiefe des Schachtes der Zeche Prosper-Haniel in ungekürzter Länge gezeigt.

Gabriele formuliert die Gratwandung bei Entscheidungen über die Dauer einer Einstellung in einer Reflexion über das direct cinema: „Ein Grund für neue Schnitte ist die Erzählzeit, die im späteren Film eine andere ist als die Zeit der Aufnahme. Dagegen spricht die Faszination des ungekürzten Moments (…) Jeder Schnitt ist wie das Hineinschneiden in das unaufhörliche Strömen des Lebens vor der Kamera. Im Moment des Schnitts hört das Strömen auf.“ Als Zuschauer werde ich durch dieses ununterbrochene Strömen in die Ereignisse oder bei Alphonse S. und Thomas Harlan in die Erzählung hineingesogen, kann mich dem Leben vor der Kamera unmöglich entziehen. Im Laufe von Ende eines Zeitalters wird die Zeche geschlossen, der Schacht zubetoniert. Nur aufgrund dieser ersten ungekürzten Sequenz ist es möglich, den Schacht zu erfahren, zu begreifen, was die Schließung konkret bedeutet.

Aber diese immersive Technik ist nur eine der von ihr meisterlich beherrschten „Dramaturgien“ der Montage – Gabriele redet davon gerne im Plural, so zuletzt auf dem Symposium über dokumentarische Montage der Dokumentarfilminitiative 2023.

Eine von Gabrieles dramaturgischen Spezialitäten ist die Montage des Tons. Gabriele hat den Einsatz von Geräuschen und Atmos über Jahrzehnte perfektioniert, aus dem Tonschnitt eine eigene Bedeutungsebene ihrer Filme gemacht. Da sie fast immer den Ton bei Dreharbeiten selbst aufnimmt, ist das in einem Maße planbar und umsetzbar, wie in vielen anderen Fällen nicht. Man kann bei ihren Filmen bei einem zweiten Screening durchaus mal die Augen schließen und erlebt einen eigenen, akustisch reichen Film, der im ersten Durchgang vielleicht unbemerkt geblieben ist.

Eine Besonderheit der gemeinsamen Filmarbeit ist das, was Christoph neulich noch die „Königsdisziplin“ unter den Dokumentarfilmen genannt hat: viele der Filme sind Langzeitbeobachtungen, quasi-ethnographischen Feldstudien über mehrere Jahrzehnte. Der Ebel-Zyklus von 1979-2023, die drei Filme über Jungtalente von Borussia Dortmund Die Champions, Halbzeit und Nachspiel von 1998-2018, die Emscher-Skizzen über die Renaturierung der Emscher von 2006-2015, die zuletzt eine Reprise im Ebel-Zyklus bekommen haben.

Auch hier die „Kunst nicht wegzuschneiden“, sich nicht von einem einmal gefunden Thema, den einmal gefunden Protagonist*innen abzuwenden. Der Wunsch in ein Leben tiefer einzutauchen, ein unerschütterlicher Respekt vor den Menschen, insgesamt dem Leben vor der Kamera, um dessen ganze Fülle sich ihr Filmschaffen dreht, auch um das „einfache Leben“. Ein Filmschaffen, das von den Menschen vor der Kamera auch ganz klar als Wertschätzung begriffen wird.

Filmen ist Gegenwart, aber die Gegenwart ist ohne die Vergangenheit nicht denkbar. Ein Schnittproblem gerade bei Langzeitdokumentationen. Doch das Bewusstsein für Geschichte ist ohnehin Teil des großen humanistischen Projekts von Gabriele Voss und Christoph Hübner, nicht nur im Film Nachlass von 2017 über das nationalsozialistische Erbe der Nachkriegsgeneration.

Gabriele Voss und Christoph Hübner, ihr seid in den letzten fünfzig Jahren die wichtigsten Chronist*innen der Geschichte des Ruhrgebietes und des Lebens dort geworden. Euer Filmwerk ist nicht nur dadurch einzigartig. Ich wünsche euch, dass ihr auch in Zukunft Raum und Zeit dieses Lebens einfangt – und weiterhin nicht wegschneidet.

Anna.Zeit.Land

Ich freue mich, dass Edimotion als Eröffnungsfilm Anna.Zeit.Land von 1993 gewählt hat. Dieser Film ist für das Filmschaffen der beiden ungewöhnlich. Nach Vincent van Gogh, der erstmals das Ruhrgebiet wieder verließ, hatten sie offenbar den Wunsch, auch erzählerisch „zu neuen Ufern“ aufzubrechen. Anna.Zeit.Landbewegt sich vom dokumentarischen Film weg, nicht nur weil unter anderen Angela Schanelec darin als Schauspielerin spielt: Das Spiel der Drifterfigur des Films bleibt teilweise eingebettet in dokumentarische Szenen. Es entsteht aber durch die Verknüpfung mit geschriebenen Szenen ein frei gestalteter halbfiktionaler Essay über die besondere Atmosphäre eines recht frisch wiedervereinten Deutschlands mit experimentellen filmischen Mitteln, besonders auch im Schnitt. Viel Spaß bei der Projektion.

Laudatio für Gabriele Voss

Gehalten von Anne Fabini am 14. Oktober 2024, Köln

Liebe, verehrte Gabriele Voss,
lieber Christoph Hübner,
geehrte Anwesende, liebe Gäste und Veranstalter:innen von Edimotion,

als Denkerin, so bist Du mir zuerst begegnet. Wortmächtig, glasklar und tiefgründig, – leidenschaHlich setzt Du Dich mit der Filmmontage auseinander. Du suchst, umkreist und betrachtest, Du schwärmst aus und führst zusammen. Was Du findest, setzt Du in Projekte um. Es entstehen dokumentarische Filme, Kompilationen und Bücher, essayistische Texte, lyrische Skizzen, weiterführende Materialsammlungen, Vorträge und mehr.

Unsere erste persönliche Begegnung hat vor langer Zeit im Rahmen einer Dokumentarfilmtagung der Deutschen Filmakademie stattgefunden, so genau erinnere ich das Jahr nicht, – vielleicht sind schon fünfzehn seither vergangen, aber natürlich kannte ich Deinen Namen schon vor dieser Begegnung und fand Deinen Film „Schnitte in Raum und Zeit“ beeindruckend. Dieser Film, in dem ausschließlich über Montage gesprochen wird, ist in der Ernsthaftigkeit seiner Auseinandersetzung mit dem Thema der erste seiner Art gewesen in Deutschland. Ich erinnere, wie dankbar ich dafür war, weil ich ihn als Sprachrohr und Manifest für unsere Kunstform empfand.

Und es war nicht nur dieser Film; Dein gleichnamiges Buch „Schnitte in Raum und Zeit“ aus dem Jahr 2006, vereint von Dir gesammelte Texte, Textfragmente, Zitate mit Deinen eigenen Gedanken und Thesen, vereint sie mit den Stimmen einer Vielzahl von Editorinnen und Editoren und gruppiert sie schließlich um zwei Gespräche, die Du – als promovierte Wahrnehmungstheoretikerin – mit anderen Experten geführt hast: einemnaturwissenschaftlich Forschenden und einem filmpoetisch Forschenden.

Dein Buch stellt bedeutend mehr als eine kuratierte Sammlung dar: es bietet Einblick in die Gedankenwelt einer Filme-montierenden Wissenschaftlerin. In ihm verschmelzen Lesen und Leben, eigene Erfahrungen und Austausch mit Gleichgesinnten zu etwas Neuem. Es entsteht ein Teppich, auf dem die Gedanken der Leserinnen und Leser fliegen, denn wenn sie selbst vom Fach sind, werden sie sich inspiriert und dialogisch eingebunden fühlen. Für alle diejenigen im Leserkreis jedoch, die noch nicht viel Kenntnis über Filmmontage haben, bietet das Buch durch seine abwechslungsreiche Struktur einen guten Einstieg in die Thematik undvermittelt Verständnis von den komplexen gedanklichen Prozessen jenseits des Handwerklichen.

In das Buch fließen neben filmgeschichtlichen Überlegungen, Statements von Filmkünstlern, philosophischen Analysen von Kritikern auch Fragestellungen ein, die sich aus der Praxis ergeben. Wie in alldem Zusammenhänge offenbar werden, ist eine Demonstrationsübung in Filmmontage. Dieses Buch zeigt auf, wie die Editorin denkt, kombiniert, fühlt und praktiziert.

Unausweichlich stellt sich beim Lesen Deines Buches die Frage: hätte eine Nicht-Editorin ein solches Buch schreiben können? Um die Magie der Filmmontage zu ergründen, ist jahrelange Praxis meiner Meinung nach unerlässlich. Es bedarf der Neugier und des Wunsches, weiter vorzudringen zu den tieferen Schichten des schöpferischen Prozesses. Die notwendigen Handgriffe und Tastaturbefehle, um einen Film zu montieren, sind schnell gelernt. Die dazugehörige kreative Denkweise aufzuzeigen, gelingt Dir, liebe Gabriele, in diesem Buch und anderen Publikationen ausgezeichnet.

Noch bevor im deutschsprachigen Raum die Berufsbezeichnung von „Cutter“ zu „Editor“ geändert wurde, warst Du schon Herausgeberin. „Ins Offene“ ist der so überaus passende Titel von zwei Buchbänden, für die Christoph Hübner Interviews mit namhaften Dokumentaristen führt, Du hast für die Veröffentlichung aufbereitet. Diese Gespräche zeugen von Eurem genuinen Interesse für Menschen und Arbeitsprozesse, aber auch von Eurer unermüdlichen Reflexion der schöpferischen Tägkeit, die auch Eure eigene ist.

Dokumentarfilm, besonders die deutsche Dokumentarfilmtradition, die ihren Ursprung in den späten 1960er Jahren hat, stellt einen bedeutenden kulturellen Wert dar. Der kritische Blick darauf, wer wir als Gesellschaft sind und wie wir wurden, was wir sind, hat auch in den künstlerischen Dokumentarfilmen, die Du in Co-Regie mit Christoph Hübner gemacht hast, einen wirkungsvollen Ausdruck gefunden. Unerschrocken wendet Ihr Euch gesellschaftsrelevanten Themen zu. So sind Eure Filme jüngeren und zukünftigen Filmemachern eine ständige Mahnung, diesen Blick beizubehalten und nicht zu verlernen.

Ich möchte kurz auf einige Eurer filmischen Werke eingehen:

• In Langzeitbeobachtungen wie „Prosper Ebel“ und „Vom Ende eines Zeitalters“ dokumentiert Ihr Veränderungen und Brüche in den Industrielandschaften des Ruhrgebiets. Die Landschaften sind geprägt von Menschen. Diesen kommt ihr in Euren Aufnahmen auf respektvolle Weise sehr nahe.

• Um die Umbrüche und Orientierungslosigkeit der Wendejahre festzuhalten, sind auch die Freiheit und Offenheit des dokumentarischen Arbeitens nicht genug und so bedient Ihr Euch in dem Film „Anna Zeit Land“ einer fiktionalen Erzählung und schafft damit ein künstlerisches Zeitdokument.

• Nicht nur die Entwicklung einer Region, sondern auch die von jungen Menschen habt ihr über viele Jahre begleitet. Die „Champions“-Trilogie ist eine Chronik, die unter anderem zeigt, wie Menschen und ihre Träume sich im Laufe der Zeit verändern.

• „Vincent van Gogh – der Weg nach Courriéres“ ist eine essayistische Meditation, die erfahrbar macht, wie wiederum Landschaft einen Menschen prägt, während der Film gleichzeitig die Frage untersucht, wie man sich mit seinem Umfeld kreativ auseinandersetzt und als Künstler (über)lebt.

• Aber auch die Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit macht Ihr zu Eurem Thema. In „Nachlass“ geht es um den Umgang der Kinder- und Enkelgeneration von Tätern und Opfern mit dem dunklen Erbe. Der Film zeigt, wie es sich auf unterschiedliche Weise in individuellen Biographien spiegelt.

•„Thomas Harlan – Wanderspliber“ wäre ein klaustrophobischer Interviewfilm, wenn es den Blick aus dem Fenster auf die Berglandschaft nicht gäbe. Wie unbehauene Marmorblöcke scheinen die teils minutenlang ungeschniben durchlaufenden Interviewteile aus einem viel größeren Steinbruch herausgebrochen.

In allen diesen Werken fällt der Montage nicht nur eine gestalterische Rolle zu. Der dramaturgische Aujau in „Nachlass“, zum Beispiel, ist eine kompositorische Meisterleistung. Es wird von Anfang an Spannung aufgebaut, indem bewusst nur die allerwichtigsten Informationen mitgegeben werden. Diese Reduktion macht mich als Zuschauerin unglaublich neugierig, was jetzt wohl als nächstes kommt. Ungefähr nach dem ersten Drittel des Films meine ich verstanden zu haben, was das Montageprinzip ist, und versuche vorauszudenken, welche Filmfigur wohl als nächste ihren Auftritt hat. Aber genau da beginnt die Montage, Variationen einzubringen und formt mit feiner Musikalität die Choreographie eines frei fließenden Reigens, während die filmische Erzählung sich thematisch verdichtet. Dieser in seiner Größe doch schlichte Aujau mündet zum Ende des Films hin in einen vielstimmigen Ausklang, in dem alle Fäden zusammenlaufen und der Bogen sich schließt.

Insgesamt lebt die Klarheit des Ausdrucks in Euren Filmen von einer überaus präzisen Montage. Diese Präzision ist Notwendigkeit, Pflicht und selbstbewusstes Statement zugleich. Häufig werden Schnitte noch verstärkt sichtbar gemacht, indem sie kurz in Schwarz getaucht werden. Das Schwarz lässt sie wirkungsvoll aufblitzen wie schwarze Diamanten. Selbst wenn mitten in einer Aussage geschnitten wird, so wird diese filmische Intervention oft nicht kaschiert, sondern hervorgehoben. In Filmen wie „Nachlass“ oder „Thomas Harlan - Wandersplitter“ wird dem Publikum dadurch immer wieder kommuniziert: dieser Übergang interessiert uns, wir gruppieren thematisch, wir gaukeln nicht Kontinuität vor, sondern führen inhaltlich – aus Fragmenten besteht das Ganze.

Durch das Hervorheben des Ausschnitts und des ausschnitthaften Wesens von dokumentarischem Material wird das Schauen, die Wahrnehmung, zu einem dialogischen Prozess. Die Montage lädt die mündigen Zuschauer:innen ein, die gesehenen Ausschnitte mit unmittelbaren Erkenntnissen oder ihrer individuellen Vorstellungswelt zu verknüpfen. In Euren Filmen wird keine fertige Meinung angeboten, sondern ein Raum für eigene Gedanken und Schlussfolgerungen geöffnet. Das Zusammenführen der Fragmente zu einem Ganzen wird dabei zur persönlichen Erfahrung.

Liebe Gabriele, Dein Werk leistet einen bedeutenden Beitrag zum Denken und Reden über Filmmontage. Es ist mir eine besondere Freude, Dir heute zum Ehrenpreis Schnitt des Edimotion Festivals zu gratulieren.

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